Absolutes Gehör und relatives Gehör

 

Wer absolut hört, kann jedem Klang eine bestimmte Tonhöhe wie "a" oder "fis" zuordnen. Folgendes Beispiel kann diese Fähigkeit illustrieren: Wenn ich die Hupe unseres Wagens betätige, klingen die Töne "b", "f" und "des" als Zusammenklang. Natürlich sind die Töne nicht genau wie auf dem Klavier gestimmt, aber sie sind sehr nah an den drei Tönen, also in diesem Fall einem b-moll-Dreiklang. Ich könnte also zu jedem beliebigen Autohaus gehen und die präzise Tonhöhe jeder Hupe am Klang erkennen.

 

Nicht nur die Hupe von Autos, sondern auch den Gesang der Vögel höre ich als Noten. In diesem Sommer waren zwei verschiedene Kuckucks zu hören, einer sang "f-des", der andere "es-c". Der "es-c"-Kuckuck klingt etwas unmotivierter und trauriger, weil "es-c" eine kleine Terz ist und somit moll-Charakter hat.

 

Weil Töne für mich so wie verschiedene Farben sind, kann ich Musikstücke leichter auswendig lernen oder problemlos notieren. Ich kann ein einfaches Musikstück, das ich nur einmal gehört habe, auf dem Flügel nachspielen. Dieses Gehör kann man nicht trainieren. Man kann es zwar versuchen, wenn das Kind noch sehr klein ist, doch ab dem Alter von 6 Jahren wird den Bemühungen kaum Erfolg beschieden sein.

 

Eine andere Art zu hören ist relatives Hören. Die meisten Europäer hören relativ. Relativhörer erkennen keine einzelne Tonhöhe, sondern sie hören den Abstand zwischen den Tönen. Ein solches relatives Gehör muss durch Gehörbildungsunterricht hart trainiert werden.

 

Ein Absoluthörer braucht keinen Vergleichston, um eine Tonhöhe bestimmen zu können. Aber er erkennt den Charakter von Intervallen oder Akkorden weniger genau als ein Relativhörer. Wenn z.B. jemand "c" und "e" zusammen spielt, und danach "g - h", empfindet der Relativhörer die beiden Klänge als einen angenehmen Große-Terz-Klang, ohne dass er überlegt, welche Töne jeweils gespielt worden sind. Dies ist für ihn auch nicht wichtig. Er genießt lediglich die schöne große Terz.

 

Ein Absoluthörer nimmt die zwei einzelnen Töne, "c" und "e", wahr. Und wenn er gefragt wird, welches Intervall (Terz oder Quarte?) es war, muss er nachdenken und rechnen. Erst mit der musikalischen Erfahrung schärft er die Empfindung, dass die Zusammenklänge "c - e"(Große Terz) und "g - h"(Auch große Terz) denselben Charakter haben.

 

Wenn ich Klavier unterrichte und ein Schüler spielt einen falschen Ton, höre ich dies sofort, ohne seine Hände anzuschauen. Das kann bestimmt auch der gut trainierte Relativhörer. Was ein Relativhörer nicht allein durch das Gehör erkennen kann, ist, wenn der Schüler z.B. ein Stück, das im Original in der Tonart E-Dur notiert ist, in F-Dur oder in C-Dur spielt. Das hört er nicht, und das stört ihn auch nicht.

 

Der Relativhörer kann ohne Problem auf einem historischen Instrument wie dem Cembalo spielen, das einen halben Ton tiefer gestimmt ist. Wenn man also die Taste "c" drückt, erklingt der Ton "h". Ein Relativhörer hat kein Problem damit, ein Absoluthörer wird sich daran stören.

 

Eine Sängerin hat mir gegenüber einmal erwähnt, dass sie absolutes Gehör als störend empfindet. Sie selber hat kein absolutes Gehör, reagiert aber wie viele Menschen ablehnend auf diese Fähigkeit, was auch teils mit Neidgefühlen zusammenhängen kann. Wenn es um komplizierte, moderne Stücke geht, kann eine Sängerin, die absolut hört, aber durchaus besser zurechtkommen. Es gibt Stücke, die ohne absolutes Gehör sehr schwierig zu singen sind, zum Beispiel die Oper- und Gesangwerke von Alban Berg.

 

Hier in Europa hören sehr wenige Menschen absolut, angeblich nur etwa 8% der Musiker. Es wird geschätzt, dass in Europa nur einer von zehntausend Menschen absolut hört. In Japan ist der Anteil der entsprechend Begabten höher, unter Musikern soll der Anteil 70% betragen. Das könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass es in Japan spezielle Gehörbildungsangebote für Kinder gibt. Jedoch kann man absolutes Gehör ohne entsprechende genetische Prädisposition wahrscheinlich nicht erlernen.

 

Beide Gehörarten, absolutes und relatives Hören, haben jeweils Vor- und Nachteile.

Aber eins ist sicher: Jeder Musiker, der ein absolutes Gehör hat und damit sich umgehen kann, freut sich darüber!

 

Hier erfahren Sie mehr über absolutes gehör.